Estland - eine Radtour in den Nordosten Europas

 

„Estland, wo liegt denn das?" so ähnlich klang die Reaktion, als ich Freunden und Bekannten mein Reiseziel kundtat. Estland, der kleinste der drei baltischen Staaten, ist mit 45.215 qkm größer als Dänemark, die Schweiz oder die Niederlande, hat jedoch nur 1,37 Mio. Einwohner. Die Republik liegt im Nordosten Europas, grenzt im Osten an Russland und im Süden an Lettland. Eine abwechselungsreiche Tier- und Pflanzenwelt in einer radfahrfreundlichen Landschaft – 90% liegen in einer Höhe von unter 100 m – machen das Radfahren zu einem Vergnügen. Die Idee zu dieser Tour stammt, dass sei fairerweise gesagt, von meinem Radlerfreund Volker aus Lüneburg. Die Berichte und brillanten Fotos von seiner Estland-Tour 1999 begeisterten mich. Leider ließ sich eine gemeinsame Reise nicht durchführen und so entschloss ich mich, allein in den wilden Osten aufzubrechen. Das Kartenmaterial war schnell besorgt. Die "Maanteede Kaart – Eesti 1:500000" ward mir empfohlen und erwies sich im Verlauf der Tour als völlig ausreichend. Ein aktueller Reise- und Kulturführer war die weitere Grundlage der Routenplanung. In einem Crashkurs der „Kauderwelschreihe" lernte ich die notwendigen Grundbegriffe der estnischen Sprache. Auf dem Lande, aber auch in Tallinn zeigten sich die Sprachkenntnisse von Vorteil. Die älteren Esten sprechen zum Teil noch Deutsch, die jungen meist fließend Englisch. In den östlichen Regionen kommt man jedoch fast nur mit Estnisch oder Russisch weiter.

So vorbereitet ging es am 01.06. mit der Bahn nach Rostock und weiter mit der Fähre über die Ostsee nach Tallinn. Mir ist es bis heute unerklärlich, wie bei dem Hin und Her der Fähren diese auf die Minute pünktlich waren!? Ach, wäre die Deutsche Bahn nur so pünktlich wie diese.

Wir warten auf die Fähre in Rostock

Montag abends erreichte ich nach über 24-stündiger Seereise die alte Hansestadt Tallinn. Am Hafen empfing mich Volker Röwer. Der Deutsche betreibt in Estland seit 6 Jahren ein Reisebüro und der estnische Radsportbund hatte ihn mir empfohlen. Volker hatte nach meinen Wünschen eine Tour erarbeitet und die Unterkünfte gebucht. Er zeigte mir meine B&B-Unterkunft im Herzen von Tallinn und lud mich und ein Berliner Radlerehepaar zu einem ersten Spaziergang ein. Am Dienstag folgte nach einem Frühstück mit Bratkartoffeln, Lachs, Brot, Wurst, Käse, Jogurt und Obst – die Esten lieben es allgemein deftig– eine ausgiebige Stadtführung. Die lebendige, vielfältige Hauptstadt Estlands hat zahlreiche Museen, alte Häuser, Strände und Parks. Höhepunkt ist die Altstadt, die einem einzigen Freilichtmuseum gleicht.

Am Mittwoch ging es dann mit dem Rad Richtung Osten. Bei strahlendem Sonnenschein starte ich mit den beiden Berlinern, meine Begleiter für die nächsten zwei Tage. Zu Beginn nutzten wir die Möglichkeit straffrei auf der Autobahn Richtung St. Petersburg zu fahren. Nach 25 km hatten wir jedoch von Abgasen und Lkws genug und fuhren auf der Eurovelo 1 durch den Lahemaa Rahvuspark. Nach 9 Stunden und 97 km erreichten wir Altja, ein kleines Fischerdorf an der Ostseeküste. Der nächste Tag führte uns entlang der Steilküste weiter in Richtung russische Grenze. Ab Freitag fuhr ich allein weiter nach Kurämae. Dort ist das einzige noch bewohnte russisch-orthodoxe Frauenkloster. Schon von Ferne sah ich auf der Anhöhe die Zwiebeltürmchen. Nach einer Besichtigung nutzte ich in der Bibliothek die weltliche Einrichtung "Internet". Übrigens - in Estland ist jede Schule ans Internet angeschlossen und wenn man höflich fragt, kann man dort seine Emails kostenlos bearbeiten. Trotz eines eingeholten Segens ereilte mich an diesem Tage auf dem Weg in Richtung Süden die zweite von insgesamt drei Pannen. Gott sei Dank war es jeweils nur spitze Steine, die in den Vorderreifen drangen. Am Nachmittag erreichte ich dann den Peipsisee, der die Ostgrenze zu Russland bildet. Kilometerlange Sandstrände dieses größten Binnensees erinnerten mich an die Karibik, der wolkenlose blaue Himmel und die Sonne taten ihr übriges dazu. Unterkunft fand ich in der "Villa Marika", einem ehemaligen Ferienlager. Zu meiner Überraschung erschien am Abend ein Polizist, der mich bat, das Fahrrad nicht auf der Terrasse stehen zu lassen, sondern mit aufs Zimmer zu nehmen. Die Kriminalitätsrate sei in seinem Distrikt leider sehr hoch. Ich folgte dem Rat – so hat mein Drahtesel von Beginn an in meinem Zimmer übernachtet. Es sei angemerkt, dass ich mich während meiner gesamten Reise durchweg sicher fühlte und dies selbst im russischen Grenzgebiet, wo hohe Arbeitslosigkeit und soziale Spannungen herrschen.

 

Die Rundtour durch Estland (rote Linie)

 

In zwei Tagesetappen ging es am Ufer des Peipsijärv über Alatskivi nach Tartu, dem geistigen Zentrum Estlands. Hier befindet sich die älteste Universität des Landes und es verwundert nicht, dass hier am Ufer des Emajögi der Mittelpunkt des erwachenden Nationalbewusstseins im 19. Jh. war. Ein Ausflug am nächsten Vormittag führte mich in die Nähe von Kildjärve, wo ich zwei Meter hohe Ameisenhügel bestaunte. Am Abend erkundete ich den Ort Tartu und seine Studentenkneipen. Die Abende sind lang und wegen der nördlichen Lage bis Mitternacht hell. Am nächsten Tag führte mich mein Weg nach Viljandi, dessen Theater über die Grenzen hinaus berühmt ist. Unterkunft fand ich auf dem Ferienhof Männiku Metsatalu (Metsa=Wald, Talu=Hof). Die nagelneuen Zimmer und eine heiße Dusche ließen mich die 95 km bei Regen und böigem Gegenwind bis 7 Windstärken schnell vergessen. Nach einem erneut üppigen Frühstück ging es weiter nach Pärnu, einem beliebten Badeort am Golf von Riga. Wieder kilometerlange Sandstrände, so dass man sich fragt, warum in die Karibik fliegen. In diesem mondänen Seebad gönnte ich mir einen weiteren Ruhetag. Am nächsten Morgen verabschiedete mich der emeritierte Leiter des Pärnuer Kammerorchesters, bei dem ich zwei Nächte zu Gast war, mit seiner Mundharmonika. Die letzte Etappe führte mich über Keo zurück nach Tallinn. Bei strahlendem Sonnenschein leistete ich mir auf dem mittelalterlichen Rathausplatz ein Pfeffersteak, bevor mich die Silja-Fähre am Abend zurück nach Deutschland brachte.

In den 12 Reisetagen hatte ich, bei 3 Ruhetagen in den großen Städten, 1.149 km zurückgelegt. Die Zeit verging wie im Fluge und schon auf dem Rückweg beschloss ich wieder nach Estland zu fahren. Ziel ist dann die Westküste mit den Inseln Hiiumaa und Saaremaa. Zum Schluss sei bemerkt, dass es in Estland 16 bestens ausgeschilderte Radfernwege (60-900 km) gibt, die zum Teil neu asphaltiert sind und in schönste Gegenden führen. Estland – auf alle Fälle eine Reise wert!

 

Blick über die Altstadt von Tallinn

 

Die Stadtbefestigung von Tallinn, der Dänenstadt (taani=Dänen und linn=Stadt)

 

In Estland darf man mit dem Fahrrad auf die Autobahn

 (Auf der E20 nach St. Petersburg, im Hintergrund Tallinn)

 

Imbiss im Herrensitz Kolga (die Fahrräder stehen in der Garderobe)

 

Kurz vor Altja gibt es eine Erfrischung in einem Toidopood

(Diese Läden haben jeden Tag zw. 9 + 17 Uhr geöffnet)

 

Peipsijärv (Peipsisee) - Der mit 3555 qkm größte Binnensee, durch den mittig die Grenze zu Russland verläuft.

 

Endlose Straßen mit Schotterasphalt, auf denen einem z.T. über 20 oder 30 km niemand begegnet.

 

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